Heute ist ein besonderer Tag. Heute vor 8 Jahren, im Alter von 28, habe ich meinen Papa verloren. Ich habe ihn die letzten 3 Wochen täglich begleitet. Ich habe genau gespürt wieviel Zeit er noch hat und mir damit komische Blicke von den Ärzten eingehandelt. Ich habe genau gewusst, wann es soweit sein wird und abgelehnt als der Pfleger im Hospiz mich übers Wochenende wegschicken wollte. Heute vor 8 Jahren kam ein Anruf und meine Welt stand plötzlich still. Wie kann ich ganz sein, wenn etwas von mir fehlt?
Heute vor 8 Jahren saß ich an seinem Bett und hörte die alte Armbanduhr ticken. Sonst war da kein anderes Geräusch. Kein Atem. Keine Stimmen auf dem Gang. Ein geschlossener Raum, mein Papa und ich. Heute hängt seine Uhr an meinem Schreibtisch, die Zeiger stehen auf 15:32 Uhr. Wie beschreibt man jemandem die eigenen Gefühle, wenn da keine Worte mehr sind?
Heute vor 8 Jahren ging ich einen Gang hinunter bis zur letzten Tür des Flurs. Minutenlang war ich unfähig die Klinke zu drücken. Wenn ich jetzt da rein gehe, ist es wahr. Am Bett sitzend konnte ich mir endlich erlauben zu weinen. Wochenlang aufgestaute Tränen flossen bis in mein T-Shirt. Ich musste nicht mehr stark sein, ich konnte mir erlauben loszulassen, denn ich muss nachher nicht aufstehen und funktionieren. Über eine Stunde später stand ich wieder vor der Tür. Vor der Klinke. Unfähig den Raum zu verlassen, in den ich erst nicht gehen wollte. Wenn ich jetzt gehe, sehe ich ihn nie wieder. Wer hält mich, wenn da niemand mehr ist?
Nach einer Woche am Boden ging ich wieder arbeiten, weil ich dachte, ich muss. Das Leben ging schließlich weiter, mein Umfeld drehte sich. Aber ich stand nach wie vor still. Ich hielt es kaum aus unter Menschen zu sein. Ich ertrug die Sonne nicht. Kaum jemand kümmerte sich um mich. Wer bin ich ohne meine Wurzel?
Das erste Weihnachten heulte ich ständig und bekam das Gefühl meinen Schwestern das Fest zu verderben. So viele Erinnerungen und niemand, mit dem ich sie teilen konnte. Der wichtigste Prozess ist vermutlich der, in dem man sich gegenseitig Geschichten erzählt. Und immer mal wieder mit anderen spricht. Weißt du noch? Er hat doch immer…! Erinnerst du dich?
Ein paar Jahre später verlor ich völlig unvermittelt in einem Seminar die Fassung. In einer imaginären Reise sollten wir unsere Eltern treffen. Mein Vater kam zur Tür rein und ich verlor mich. Mit geschlossenen Augen hielt ich das Bild fest, ich konnte ihn auf keinen Fall wieder gehen lassen, er saß schließlich vor mir! Ich heulte 2 Stunden und hielt das ganze Seminar auf, weil die Trainerin sich eingehend mit mir und meinem Erleben beschäftigte. Lernmaterial für die anderen. Endlich Aufmerksamkeit für mich. Wohin mit den Tränen, wenn sie keiner sehen möchte?
Vor 2 Jahren bescherte ich als Co-Trainerin einer NLP-Seminargruppe das Paradebeispiel für einen aktiven Anker. Ohne zu wissen, dass ich diesen hatte. Mein Trainer fragte woran er uns erinnern würde. An meinen Vater, meldete ich mich. „Na Tochter, das ist ja schön!“ Den Rest verstand ich nicht mehr. Innerhalb von Millisekunden (erinnere dich an den Beitrag Gehört und gefühlt) schossen mir die Tränen in die Augen und mein ganzer Körper versagte. Zack – Reaktion. Die Art, wie er das sagte, hörte sich so sehr nach meinem Vater an, als stünde er vor mir. Wie sortiert man mitten im Sturm die Gedanken?
Letzte Woche ging es um die Frage wie wir trauern und wie du mit einem Verlust umgehen kannst. Wie geht das eigene Leben weiter, wenn ein anderes plötzlich stillsteht? Und ist es okay als Coach eine persönliche Geschichte zu teilen? Ja, denn ich bin ein Beispiel dafür, wie sich Trauer festsetzen kann, wenn du keine Begleitung hast. Wenn du mit niemanden in einen Prozess der Verarbeitung gehst.
Der Tod meines Vaters ist nach wie vor ein großes Thema für mich. Hier und da lässt es mich ungeplant stürzen. Und ich habe das Gefühl, die Wunde wird größer statt kleiner. Heute, 8 Jahre später, beginne ich mit der aktiven Verarbeitung. Ich gestehe mir ein, dass ich ein unverarbeitetes Trauma habe und habe einen Termin bei einem wingwave Coach gemacht. Ich habe mir in meinem Büro zuhause einen Ort geschaffen, der mich an ihn erinnert. Ich weine auf dem Fußboden im Bad und schmiere meine Wimperntusche ins weiße Handtuch. Ich höre wingwave Musik, lasse die Trauer kommen und tauche in alle Erinnerungen ein. Ich schreibe diesen Beitrag.
Ich wünschte, ich hätte früher um Hilfe gebeten. Mehr Hilfe gefordert, satt mich abwimmeln zu lassen oder nicht aufdrängen zu wollen. Ich wünschte, ich hätte mir selbst Zeit gegeben. Und die Erlaubnis zu trauern.
Und ich wünsche dir, dass du keine 8 Jahre wartest. Dass du Menschen um dich hast, die dir zuhören und deiner Trauer einen Raum geben. Wisch deine Tränen nicht ab, wenn jemand guckt. Frag nach Hilfe. Rede den Verlust nicht klein. Ich wünsche dir Kraft, Mut und Freude. Und schöne Erinnerungen, die dich auf deiner Reise begleiten.